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"In Guatemala wird der Raub von Kindern durch eine Urkunde legalisiert"

Fijáte 426 vom 14. Januar 2009, Artikel 1, Seite 1

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"In Guatemala wird der Raub von Kindern durch eine Urkunde legalisiert"

Ursprung: der bewaffnete Konflikt

Während des bewaffneten internen Konflikts begannen die massiven erzwungenen Adoptionen, als viele Kinder zu Waisen wurden oder von ihren Eltern auf der Flucht verloren oder verlassen wurden. Viele dieser Kinder wurden von Familien von Militärangehörigen "adoptiert". Gemäss der Nationalen Kommission zur Suche der verschwundenen Kinder verloren rund 5'000 Kinder während des Krieges den Kontakt zu ihren Familien, verschwanden, wurden getrennt oder zur Adoption gegeben. Bis 2003 hatte die Kommission 1'084 Fälle dokumentiert, 500 davon waren Kleinkinder unter einem Jahr, die entführt und adoptiert wurden. Viele von ihnen wurden so "gerettet", während ihre Eltern und ihre älteren Geschwistern bei den Massakern ums Leben kamen.

Es ist schwierig, an genauere Zahlen zu kommen, weil nach wie vor der Zugang zu den Militärarchiven und Waisenhäusern dieser Zeit ebenso wie zu den Adoptionsakten verschlossen ist. Am 25. Februar 2008, am neunten Jahrestag der Präsentation des Berichts der offiziellen VGWahrheitskommissionNF "Guatemala - nie wieder", ordnete Präsident Colom die Öffnung aller Militärarchive an. Doch im Oktober desselben Jahres informierte der Verteidigungsminister, General Marco Tulio García Franco, dass er diesem Befehl nicht nachkommen werde, da er verfassungswidrig sei.

Eine Realität grossen Stils

Die UNO-VGSonderberichterstatterinNF für Kinderhandel, Kinderprostitution und Kinderpornografie erklärte, dass das, was in Guatemala als Versuch begann, die brutalen Vorgehensweisen des bewaffneten Konflikts aufzuklären, sich bald in ein rentables Geschäft wandelte. Dann nämlich, als festgestellt wurde, dass es eine grosse Nachfrage nach der Adoption von Kleinkindern gibt. Sie bestätigt weiter, dass der Handel von Babies und Kleinkinder in Guatemala im grossen Stil betrieben wird. Aufgrund all dessen ist es gerechtfertigt, vom Kinderhandel als einer weiteren Form von Gewalt zu sprechen, die uns der bewaffnete Konflikt zurückgelassen hat. Um so mehr als bewiesen ist, dass dieses Geschäft seit den 80er Jahren wächst. Die zitierte Studie ergänzt, dass weitere Gründe in der hohen Anzahl minderjähriger Mütter (jährlich gebären 113'000 junge Frauen zwischen 15 und 19 Jahren Kinder), in Armut (51% der Bevölkerung) und in extremer Armut (15% der Bevölkerung) zu suchen sind.

Je ärmer, umso grösser der Druck

Die Studie belegt, dass vor allem Frauen unter 25 Jahren, alleinerziehende Mütter ohne Bildung und ökonomische Ressourcen am ehesten unter Druck gesetzt werden können, ihre Kinder zur Adoption zu geben. Gewalt gegen Frauen ist ein weiterer Faktor, da der erzwungenen Adoptionsfreigabe oft eine Vergewaltigung vorausgeht. Die Studie belegt weiter, dass die Situation der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Verletzbarkeit sowie die Missachtung der sexuellen und reproduktiven Rechte der Frauen von den Kinderhandelsnetzwerken ausgenutzt werden. Sie erwähnt auch das Geschäft mit den "Mietbäuchen", das z.B. in VGAlta VerapazNF dokumentiert wurde, wo es Häuser gibt, in denen Frauen während der Schwangerschaft und bis zur Geburt verwahrt werden. Dazu kommen der Diebstahl, die Entführung oder das Verschwindenlassen von Kindern.

Die staatliche Toleranz

All dies ist nur möglich dank der Toleranz des guatemaltekischen Staates gegenüber den illegalen Adoptionsverfahren. Es handelt sich nicht bloss um Toleranz, sondern um einen klaren Gesetzesbruch seitens des Staates, bzw. des Generalprokurats, das akzeptiert, dass mit einer einfachen notariellen oder anwältlichen Urkunde eine Adoption rechtsgültig ist. Dies erstaunt nicht angesichts der weit verbreiteten VGKorruptionNF in vielen staatlichen Institutionen und der doch recht hohen Preise, die für eine solche Urkunde (zwischen 13 und 40 Tausend US-$ pro Adoption) bezahlt werden. Mit 4'918 Adoptionen im Jahr 2006 im Vergleich zu 1'256 im Jahr 1997 hat sich die Anzahl innerhalb von 10 Jahren fast vervierfacht.

Ein Milliardengeschäft

Machen wir eine einfache Rechnung mit diesen Zahlen: Wenn jede Adoption den Minimalpreis von 13'000 US-$ gekostet hätte, macht dies im Verlauf von 11 Jahren (30'434 Adoptionen) insgesamt 395'642'000 US-$. Hätte sie jedoch den Maximalbetrag von 40'000 US-$ gekostet, gibt dies ein Total von 1'217'360'000 US-$. Der reale Betrag liegt wohl irgendwo dazwischen. Wenn wir also vom Adoptionsgeschäft sprechen, sprechen wir nicht von einem kleinen oder mittleren Unternehmen, sondern von einem Grosskonzern. Würde man auf vollkommen legalem Weg ein Kind adoptieren, beliefen sich die Kosten auf rund 4'000 US-$, also mehr als dreimal weniger als die in der Studie als Minimum bezeichneten 13'000 US-$.

Gravierendes Versagen des Staates

Die erste Schlussfolgerung der Studie ist, dass der guatemaltekische Staat während zehn Jahren die unterzeichneten internationalen Abkommen nicht umgesetzt hat. Er hat nicht einmal das im 2003 verabschiedete entsprechende nationale Gesetz (LPINA) eingehalten, sondern sich nach einem veralteten Gesetz aus dem Jahr 1977 gerichtet.

Die Kinder werden in den meisten Fällen ohne das vollständige Wissen und Einverständnis ihrer biologischen Mütter zur Adoption gegeben. Auch hat der Staat nicht darauf geachtet, dass die Kinder vornehmlich in Guatemala selber adoptiert werden, und hat sich auch nie um ein spezifisches Abkommen mit den USA gekümmert, das die Rechte der dorthin adoptierten Kinder schützen würde. Der Staat erlaubt auch horrende und ungerechtfertigte Gewinne für diejenigen, die im Adoptionsgeschäft involviert sind.

Indem der Staat eine blosse notarielle Beglaubigung als gültige Urkunde für eine Adoption zulässt, kann er nicht garantieren, dass die Kinder nicht unter Druck oder Zwang zur Adoption gegeben oder dass sie nicht entführt oder geraubt wurden. Im Fall von älteren Kindern oder Jugendlichen kann er somit auch nicht gewährleisten, dass sie nicht zu Zwecken der Prostitution oder der Pornographie oder für den Organhandel "verkauft" werden.

Die Adoptionsnetzwerke

Die zweite Schlussfolgerung betrifft die Adoptionsnetzwerke. Dazu wurde eine Teilstudie über 1'083 Adoptionsanzeigen gemacht, die im Zeitraum von Mai bis August 2007 beim Generalprokurat eingingen. An diesen 1'083 Adoptionsprozessen waren 1607 Personen involviert: 392 GynäkologInnen und Hebammen, 110 KinderärztInnen, 155 NotarInnen, 142 "Sachverwalter" und 808 Angestellte von Kinderheimen, in denen die Kinder bis zur Adoption betreut wurden. Dass diese Leute je an mehr als einem Adoptionsverfahren beteiligt sind, wird anhand der NotarInnen aufgezeigt: Die meisten von ihnen haben 12 bis 24 Fälle gleichzeitig am Laufen, eineR sogar 66. Nur eineR hatte bloss einen Adoptionsantrag eingereicht. Zu diesen Hauptfiguren kommen die Väter und Mütter, die ihre Kinder verkaufen, Krankenschwestern oder SozialarbeiterInnen, Zivilstandsbeamte, die falsche Geburtsurkunden ausstellen und verkaufen, andere öffentliche FunktionärInnen, EntführerInnen und sogenannte "Jaladoras". Dies sind Frauen, die von Dorf zu Dorf gehen, von Quartier zu Quartier, von Gefängnis zu Gefängnis und die Mütter dazu zu überreden versuchen, ihre Kinder zur Adoption zu geben.

All diese Menschen sind in das involviert, was die Studie ganz klar als Kinderhandel bezeichnet: ein Geschäft ohne Kontrolle, ohne Transparenz, ohne regulierte Preise und ohne genaue Information über die Herkunft der Kinder.

Ein legales Delikt

Die dritte Schlussfolgerung widmet sich der Verbindung zwischen Kinderhandel und internationalen Adoptionen. Die untersuchten Fälle zeigen einen klaren Zusammenhang auf zwischen "Raub, Entführung, Verschwindenlassen von Kindern", "Verkauf - Kauf von Kindern" und den internationalen Adoptionen. Mehrere Beispiele werden in der Studie nachgewiesen, und sowohl die Menschenrechtsombudsstelle wie auch der Chef der Präsidialen Kommission für VGMenschenrechteNF während der Regierung Berger haben die Tatsache anerkannt: "In Guatemala wird das Verbrechen des Kinderraubs mit einer Adoptionsurkunde legalisiert".

Zusammenhang mit dem VGFeminizidNF?

Die vierte Schlussfolgerung ist die abscheulichste. Sie stellt einen Zusammenhang zwischen Feminizid oder versuchtem Feminizid und Kinderraub her. In drei untersuchten Fällen konnte dies nachgewiesen werden: In einem Fall wurde eine Frau verletzt beim Versuch, ihr das Kind zu entreissen, in zwei Fällen wurden "Jaladoras" umgebracht, weil sie mit ihren Geschäftspartnern in Konflikt gerieten.

Es ist bekannt, dass in Guatemala die Feminizide qualitativ und quantitativ zunehmen im Verhältnis zur Gesamtzahl der begangenen Morde. Sie machen unterdessen rund 10% aus (mehr als 500 pro Jahr). Die schrecklichste aller Vorstellungen ist, dass einige dieser Frauen umgebracht wurden, nachdem sie zuerst entführt und vergewaltigt, danach gezwungen wurden, ihr Kind auszutragen, das ihnen nach der Geburt weggenommen und zur Adoption weggegeben wurde. Diese These wird in der Studie vorerst bloss als Hypothese dargelegt.

Ein furchterregendes Mosaik

Es wird viel über die Mafia geschrieben, die das internationale, illegal erwirtschaftete Kapital akkumuliert und nicht vor Gewaltanwendung zurückschreckt, um ihre Geschäfte zu betreiben. Der Fall des Kinderhandels und sein Zusammenhang mit den internationalen Adoptionen sowie mit der Prostitution, der Pornografie und dem Organhandel, eröffnet uns neue Aspekte - anders als der VGDrogenNF- und VGWaffenhandelNF - dieser Mafias, von denen die guatemaltekischen Netzwerke nur ein Seitentrieb sind. Das furchterregende Mosaik der Gewalt in Guatemala wird ergänzt durch die Adoption, welche die Rechte der Kinder und der Eltern verletzt.


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