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Indigene Organisationen - Teil des Systems?

Fijáte 423 vom 19. November 2008, Artikel 1, Seite 1

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Indigene Organisationen - Teil des Systems?

I.S.: Ja, und sie haben auch auf dieser Grundlage eine VGVolksbefragungNF durchgeführt. Guatemala hat dieses Abkommen ratifiziert, und in der VGVerfassungNF steht ausdrücklich, dass ein internationales Abkommen, das die VGMenschenrechteNF betrifft, in die nationale Gesetzgebung aufgenommen wird, sogar über dieser steht.

Frage: Weshalb akzeptiert denn die Regierung diese Volksbefragungen nicht?

I.S.: Weil es ein Politikum ist. Es hat auch mit VGRassismusNF und Eigeninteressen zu tun. In dieser Sache geht es vielmehr um politische als um juristische Aspekte. Rein juristisch gibt es keinen Grund, die consultas nicht zu akzeptieren.

Frage: Irgendwie scheint es, dass alle (lateinamerikanischen) Länder mit indigener Bevölkerung dasselbe Problem haben: Es gibt die ILO-Konvention 169, aber die Regierungen respektieren sie nicht.

I.S.: Das kommt auf die Regierung an. Ich will ihn nicht reinwaschen, aber unter der Regierung von VGAlfonso PortilloNF wurde der Entscheid der Gemeinden rund um den VGIzabal-SeeNF, wo es grosse Ölvorkommen hat, akzeptiert, diese nicht auszubeuten, basierend auf der Konvention 169. Die Erklärung liegt für mich darin, dass Portillo mit einer solchen Ölförderung keine Eigeninteressen abdecken konnte - im Gegensatz zu seinen Nachfolgern VGOscar BergerNF und heute Alvaro Colom, die tief in diese Geschäfte verwickelt waren und sind.

Frage: Manchmal habe ich den bösen Gedanken, dass wenn die guatemaltekischen BäuerInnen den Feind "transnationale Unternehmen" nicht mehr hätten, sie sehr schnell merken würden, dass ihre Situation dann auch nicht besser wäre. Welche Alternativen gibt es überhaupt für bäuerliche Projekte und Gemeinschaften?

I.S.: Es geht um mehr als nur darum, gegen die transnationalen Unternehmen zu sein. Es geht um ein anderes Konzept von Entwicklung. Für die bäuerlichen Gemeinden kann es eine Entwicklung geben, ohne dass deswegen die Natur ausgebeutet werden muss. Aktuell durchleben wir verschiedene Krisen: Z.B. die Ölkrise, die man durch den Anbau von Mais und anderen Pflanzen zu bekämpfen versucht. Doch hierbei handelt es sich um einen Teufelskreis, denn um diese Pflanzen anzubauen, muss viel Wald gerodet werden. Welche Antwort haben wir aber auf die Klimaerwärmung? Die indigenen Gemeinden sind nicht einfach nur gegen die transnationalen Unternehmen, sondern sie fragen nach einem grundsätzlichen Systemwechsel.

Frage: Und was ist ihr konkreter Vorschlag? Oder derjenige von euch als Organisation?

I.S.: Es hängt von den Situationen der jeweiligen Gemeinden ab, was sie für konkrete Vorschläge präsentieren. Das Ziel ist selbstverständlich, ein gemeinsames Konzept zu präsentieren. Einer der grossen Vorteile der indigenen Gemeinde ist z.B., dass sie sich mit Gemüse und Getreide quasi selbstversorgen können.

Frage: Mit der Selbstversorgung sind aber weder die Arztrechnung noch die Schulgebühren für die VGKinderNF bezahlt.

I.S.: Wer sagt denn, dass wir dieses Schulsystem wollen? Bei unseren Konzepten geht es um integrale Projekte. Das Problem ist tatsächlich, dass viele Leute denken, dass der status quo die einzige Art von gesellschaftlichem Zusammenleben ist, aber das stimmt nicht. Wir erlauben uns erst gar nicht mehr, über anderes nachzudenken, und dabei ist DENKEN die erste Voraussetzung, um die Welt zu verändern. Wie können wir in Eintracht mit der Natur leben? Wie können wir uns entwickeln, ohne gleichzeitig unsere Lebensgrundlage und unser Leben zu zerstören? Die sogenannten entwickelten Länder konnten ihren Standard nur dank der Ausbeutung der indigenen Völker erreichen. Wollen wir so weiterleben?

Frage: Es ist aber auch nicht so, dass alle guatemaltekischen indigenen und/oder bäuerlichen Organisationen eine einheitliche Position vertreten würden.

I.S.: Zugegeben, in dieser Beziehung sind Länder wie VGBolivienNF oder VGPeruNF schon viel weiter. Guatemala hat da noch einiges aufzuholen. Wenn du die Vorschläge der verschiedenen Organisationen analysierst, hast du natürlich recht. Wir sind nun mal jahrhundertelang unterdrückt worden und haben kein Selbstvertrauen mehr in unser traditionelles Wissen und lassen uns entsprechend beeinflussen und manipulieren.

Frage: Ich insistiere deshalb, weil es mir scheint, dass viele BäuerInnenorganisationen nicht über den Diskurs von 1944 über die Landreform hinausgekommen sind und nicht realisieren, dass sich vielleicht nicht so sehr Guatemala, aber umso mehr die WELT verändert hat und dass diese Konzepte heute nicht mehr so funktionieren können.

I.S.: Ich bin mir nicht so sicher, ob sich diese Konzepte nicht umsetzen lassen würden. Manchmal übernehme ich auch die Rolle des advocatus diaboli: Wenn ich ein Kapitalist wäre, einer der grössten weltweit, dann würde ich sagen: "Wunderbar, aber die Vorschläge der BäuerInnenorganisationen hindern mich in gar nichts. Ich mache ihnen stückweise Konzessionen, aber den grossen Rest behalte ich für mich." Vom System aus gesehen ist das doch wunderbar.

Ich weiss nicht, ob sich die Welt an sich geändert hat. Was stimmt, ist, dass die Welt in einer Krise steckt. Und dass sich weltweit etwas verändern muss. Diese Krise zwingt uns aber auch, auf altes Wissen zurückzugreifen, und zwar nicht nur in Guatemala, sondern überall auf der Welt, wo es ein traditionelles Wissen gibt. Es wird überall von biologischem Anbau geredet oder von Naturmedizin, nicht zuletzt in der Empfängnisverhütung. Weshalb? Weil man unterdessen die negativen Auswirkungen der konventionellen Praxen kennt.

Frage: Schön und gut. Aber heute sind es ja wieder die transnationalen Unternehmen, die sich genau dieses traditionelle Wissen aneignen und patentieren lassen wollen.

I.S.: Das stimmt, und eines der Probleme ist, dass wir als Organisationen diese Prozesse verschlafen haben. Wenn du unsere eigenen Vorschläge in Bezug auf Entwicklung liest, siehst du schnell, dass wir oft auch nicht über die konventionellen Ideen hinauskommen. So heisst es dann zum Beispiel: "Kredite für die BäuerInnen" oder "Technische Unterstützung für die BäuerInnen" - das heisst, wir übernehmen diese Vorstellung, dass die BäuerInnen nichts wissen, dass man ihnen zeigt muss, wie sie anzusäen haben. Wir selber machen uns somit zu einem Teil des Systems und wollen dieses "unseren" BäuerInnen aufzwingen.

Frage: Heute spricht man allenthalben von einer "alternativen Ökonomie", einer solidarischen Ökonomie, die autonom von der Weltwirtschaft funktioniert. Gibt es in Guatemala Projekte, die nach diesem Konzept funktionieren?

I.S.: Es gibt verschiedene Versuche. Es gibt ein paar NGOs oder sogenannte Solidarische Netzwerke. Heutzutage sind sie sicher noch keine reale Alternative. Aber sie versuchen, einen lokalen Markt für biologisches Gemüse zu eröffnen, und nur die Überschüsse werden exportiert. Oder sie versuchen, den Austausch von einheimischen Samen zu fördern. Aber die grosse Frage bleibt: Wie kann die Welt verändert werden, ohne eine erneute Anhäufung des Kapitals zu fördern?

Vielen Dank für das Gespräch!


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