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"Der Schmerz und das Leiden ist etwas sehr Privates"

Fijáte 233 vom 18. April 2001, Artikel 1, Seite 1

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"Der Schmerz und das Leiden ist etwas sehr Privates"

Vielleicht, in speziellen Momenten und unter speziellen Bedingungen, können in einigen Gemeinden solche Prozesse geführt werden. Dass z.B. ein ehemaliges Mitglied der PAC oder ein ehemaliger Militärkommissär als Verantwortliche geoutet werden und die Gemeinde sie dennoch aufnimmt. Auf dieser Ebene kann ich mir vorstellen, dass Versöhnung geschieht, aber auf staatlicher Ebene glaube ich nicht daran.

Frage: Gibt es konkrete Beispiele von Gemeinden, wo solche Gegenüberstellungen stattfanden?

Leiva: Von verschiedenen Volksorganisationen und der katholischen Kirche wurde der 26. Februar als der Nationale Tag der Opfer und der 30. Juni (als Gegenpol zum Tag der Armee) als Tag der MärtyrerInnen anerkannt. Für diese Tage haben wir Material vorbereitet für die Gemeinden, Hilfsmittel für eine gemeinschaftliche Reflexion, die zu einer Versöhnung führen kann. Wirklich durchgeführt werden konnte dies jedoch nur an ganz wenigen Orten. Dies hat damit zu tun, dass an sehr vielen Orten die alten Kontrollstrukturen noch vorhanden sind, und niemand jemals sagen wird, "dieser und jener sind es gewesen", obwohl alle Leute es wissen. Im besten Fall haben die Leute bei ihren Aussagen fürs REMHI darüber gesprochen, weil ihnen da garantiert wurde, dass ihre Aussagen anonym bleiben.

Frage: Wie erklärst du dir, dass es in Guatemala keine Racheakte gibt, wie es sie zum Beispiel in VGNicaraguaNF nach der Demobilisierung der Contras und des sandinistischen Militärs gab?

Leiva: Das hat mit der kulturellen Verschiedenheit der beiden Länder zu tun. Wie erklärst du dir folgendes Verhalten: Einer Frau wurde der beim Aufräumen eines VGKasernengeländesNF gefundene Ausweis ihres verschwundenen Sohnes überreicht, was soviel wie der Beweis dafür ist, dass der Sohn dort ermordet wurde. Die Person hegte während zweier Monate Rachegelüste gegenüber dem befehlshabenden Militär der Kaserne. Doch während einer Gegenüberstellung mit dem Täter sagte die Person: "Keine Angst, ich habe Ihnen verziehen".

Um ein solches Verhalten zu verstehen, muss man die kulturellen Hintergründe analysieren. Ein Aspekt ist sicher die Identität der indigenen Bevölkerung. Es ist aber auch eine Folge der jahrhundertelangen Unterdrückung.

Frage: Aber jeder Mensch der gegen aussen verzeiht, trägt sicher unheilbare, innere Wunden mit sich herum. Vielleicht ist es auch eine Frage des Glaubens, aber viele Leute haben ja genau wegen des Erlebten ihren Glauben verloren.

Leiva: Sicher. Die katholische Kirche führt seit neustem auch psychosoziale Programme durch. Wir arbeiten mit MultiplikatorInnen, die die Arbeit in den Gemeinden ausführen. Auch dazu ein Beispiel: Einen dieser Multiplikatoren kenne ich, seit ich seine Aussage für das REMHI aufnahm. An einem späteren Workshop erzählte er, er habe verziehen, er wisse und spüre, dass er veziehen habe. Das war vor fünf Jahren. Nun, bei der Ausbildung als Multiplikator erzählte er seine Geschichte wieder und sagte, er habe zwar auf einer intellektuellen Ebene verziehen, trage aber immer noch eine tiefe innere Wut mit sich herum, die er nicht loswerde. Eine Leere, das Nichtwissen, was mit seinem Kind geschehen ist, ein innerer Konflikt, mit dem er nicht zurechtkomme. Wie mit diesen Gefühlen umzugehen ist, weiss ich selber nicht ­ es ist einfach zuviel. Was wir mit unserem Programm versuchen, ist, in den Gemeinden einen Raum des Vertrauens zu schaffen, um über die Erlebnisse der Vergangenheit sprechen zu können.

Frage: Erreicht ihr dieses Ziel?

Leiva: Es ist schwierig, die Leute dazu zu bringen, ihre Herzen ganz zu öffnen. Dazu möchte ich ein Beispiel erzählen von einer Veranstaltung, an der öffentlich ein ehemaliges Mitglied der PAC angeklagt wurde. Die Leute sagten alles, was ihnen auf dem Herzen lag, was sie dieser Person schon immer sagen wollten. Später sass ich mit zwei Personen zusammen, die an diesem Anlass gesprochen, angeklagt haben. Und beide waren noch voller schlechter Gefühle, hatten nicht das sagen können, was sie eigentlich wollten.

Deshalb ist es wichtig, solchen Prozessen eine Kontinuität zu geben, damit das, was beim ersten Mal nicht gesagt werden konnte, vielleicht beim zweiten Mal zur Sprache kommt, oder beim dritten Mal. Ich glaube nicht, dass es dazu SpezialistInnen braucht, sondern es braucht Leute, die bereit sind, zuzuhören.

Frage: Eigentlich sollte es doch ein alltägliches Thema sein, schliesslich betrifft es hier im Petén fast alle Leute. Wie erklärst du dir dieses anhaltende kollektive Schweigen?

Leiva: Wenn jemand von jemandem weiss, dass dieser Person etwas 'passiert' ist, findet eine Annäherung statt, auch wenn nie darüber gesprochen wird. Ein Beweis dafür ist meiner Meinung nach das eindrücklich schnelle Anwachsen von ADEP. Die Leute identifizieren sich miteinander, obwohl sie nicht im Detail wissen, was die andern erlebt haben. Der Schmerz und das Leiden ist etwas sehr Privates.

Der andere Grund, weshalb nicht darüber gesprochen wird, ist die Stigmatisierung der Opfer: "Wer weiss, in was die Person gesteckt hat, dass ihr das oder jenes geschehen ist". Diese Art von Gehirnwäsche wurde vom Militär während des ganzen Krieges angewandt und ist immer noch tief in den Köpfen der Leute verwurzelt. Es findet auch heute noch eine Überwachung einzelner Leute statt.

Ein weiterer Unterschied zu Nicaragua und auch zu VGEl SalvadorNF ist, dass dort die Leute offen sagen, ich gehör(t)e zum FSLN oder zum FMLN. In diesen Ländern war klar: Entweder du gehörst dazu oder du gehörst nicht dazu. Hier war es anders. Wenn du offen zugabst 'dazuzugehören', warst du verloren. KatholischNF oder reformiert zu sein, ArbeiterIn zu sein, fröhlich zu sein, dem Fussballclub anzugehören, oder das Dorfkomitee zu organisieren, bedeutete in gewissen Gebieten, der VGGuerillaNF anzugehören. Und dies ist noch nicht aus den Köpfen der Leute verschwunden.

Für viele ist es heute noch eine Sünde, sich zu organisieren. Gut, vielleicht ist es heute akzeptiert, sich zu organisieren. Aber es ist eine 'Sünde', dabei ein T-Shirt der VGURNGNF zu tragen. Vielleicht siehst du einige, die ein T-Shirt vom Ché tragen, aber das sind StudentInnen oder MitarbeiterInnen von NGO's. Aber jemand aus der Bevölkerung, auch wenn ihm oder ihr das T-Shirt vom Ché noch so gut gefällt, sie ziehen es nicht an, weil irgend jemand etwas schlechtes über sie denken könnte.

Vergiss nicht, es waren 36 Jahre Bürgerkrieg und wir befinden uns erst im vierten Jahr sogenannten Friedens.

Frage: Kannst du der Bilanz des Versöhnungsprozesses auch etwas positives abgewinnen?

Leiva: Unter der Bevölkerung ist ein grosser Gemeinschaftssinn spürbar. Es sind unheimlich viele Dorfkomitees entstanden. Auch wenn diese ihre Arbeit auf ein spezifisches Thema konzentrieren (die Schule, das VGWasserNF, die Strasse, etc.), ist es doch ein Beweis für die organisatorische Fähigkeit der Leute. Und was mich an dieser Entwicklung speziell freut, ist, dass diese Komitees meist keiner politischen Partei angehören, sondern schlicht die Interessen der Bevölkerung vertreten. Ebenfalls spürbar ist eine verstärkte Beteiligung der Indígenas und der Frauen.

Dazu hat sicher auch die Arbeit der ONG's und die von VGMINUGUANF beigetragen, aber ebenso die Verbreitung der Inhalte der VGFriedensabkommenNF, der Ergebnisse der Wahrheitskommission und des REMHI. Die Organisationen haben heute nicht mehr einen ausgeprägt kämpferischen Charakter, sondern verfolgen vielmehr das Ziel, ein Dialog- und Diskussionsforum zu sein, in dem gemeinsam neue Perspektiven erarbeitet werden können.

Frage: Wie stellst du dir Guatemala in fünf Jahren vor?

Leiva: Eine schwierige Frage... Die Freihandelsverträge schaden dem grössten Teil der Bevölkerung mehr, als dass sie ihm nützen. Die Bresche zwischen Arm und Reich wird grösser und zwar nicht nur im ökonomischen Sinn, sondern auch, was die sozialen Mitsprache- und Ausdrucksmöglichkeiten betrifft.

In fünf Jahren wird niemand mehr über die Vergangenheit sprechen wollen. Es gibt eine starke Tendenz zur Individualisierung, zur Konsumgesellschaft. Die ältere Generation wird sich vielleicht noch an die Repression erinnern, für die Jungen wird die Vergangenheit ein Thema sein, das sie nicht interessiert.

Ich habe eine grosse Hoffnung, aber die wird sich nicht in den nächsten fünf Jahren erfüllen: Der Fall Pinochet ist ein Zeichen dafür, dass es möglich ist, eine Veränderung im Justizsystem eines Landes zu erreichen und die Straflosigkeit zu durchbrechen. Aber für Guatemala sehe ich dieses Ziel noch in weiter Ferne.


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