guatemala.de > Guatemalagruppe Nürnberg e. V. > Fijate
Fijáte
 

Die Droge Gerardi

Fijáte 438 vom 01. Juli 2009, Artikel 1, Seite 1

PDF Original-PDF 438 --- Voriges Fijáte --- Artikel Nr. 1 - 2 - 3 - 4 - 5 - 6 - 7 - 8 --- Nächstes Fijáte

Die Droge Gerardi

Dies ist ein weiterer Streitpunkt: Für Goldman gibt es einen Schlusspunkt, für andere nicht. Moisés Galindo, der Anwalt von Lima, bezeichnet die Verurteilung seines Mandanten als äusserst fragwürdig und schrieb selber ein Buch, in dem er sämtliche Punkte der Anklageschrift aufzählt, die in seinen Augen nicht korrekt sind.

Unabhängig davon, wie man den Fall und das Urteil einschätzt, muss man anerkennen, dass die Ermordung von Gerardi und die Suche nach der Wahrheit und den Hintergründen dieses Mordes in Guatemala Spuren hinterlassen haben. Dazu Goldman: "Der Fall zeigt vieles auf. Das Wichtigste aber ist, dass es einen enorm riskanten und langen Kampf um Gerechtigkeit in einem für ganz Guatemala traumatischen Fall gab. In einem Land, in dem bei dieser Art von Verbrechen - politischen Morden - immer Straffreiheit geherrscht hat. Und es gelang trotz aller Hürden, Gerechtigkeit zu erlangen. Das ist historisch." Er beschreibt bewegt den Tag der Urteilsverkündung, als die Leute plötzlich realisierten, dass Gerechtigkeit möglich ist. Doch danach ging der Krieg der Propaganda und der Desinformation los und dem Land wurden die Hoffnung und der Stolz geraubt, die sie zu Recht fühlten.

Claudia Méndez stimmt mit Goldman überein, dass der Fall gelöst sei, doch für sie gibt es ein grosses ABER: "Er ist gelöst für uns, die wir alle Details kennen, für Mario Domingo, für Staatsanwalt Leopold Zeissig. Aber es frustriert mich, dass im Gespräch mit irgendwelchen Personen immer ein "wer weiss, was da genau passiert ist…" kommt. Die Leute haben keine Ahnung von den wirklichen Geschehnissen." Méndez ist überrascht und besorgt darüber, dass die "Wahrheit nicht aufatmen" kann. Sie fragt sich, wie es möglich ist, dass die Menschen trotz Gerichtsurteil in einem Vakuum leben, das ihnen unmöglich macht, Gewissheit über das Verbrechen zu erlangen.

Denn auch wenn Goldman einen Schlusspunkt in seinem Buch gesetzt hat, bleibt der Fall Gerardi wie in der Luft hängen, die Staatsanwaltschaft sucht weiterhin nach Beweisen, mit denen weitere Beteiligte überführt werden können, und die Verteidiger der Limas (Vater und Sohn) suchen weiterhin nach Elementen, welche die Unschuld ihrer Mandanten beweisen.

Das Buch von Goldman hat den Fall erneut aufs Tapet gebracht. Gelobt von den einen, kritisiert von den anderen. Goldman selbst steht zu seiner Bewunderung für die Arbeit des ODHAG. "Wenn die Anwälte des ODHAG nicht so hartnäckig gearbeitet hätten, wäre die Sache mit Balú (dem Hund, der Bischof Gerardi angeblich zu Tode gebissen haben soll, die Red.) und der Verurteilung von Padre Orantes für immer in der VGStraflosigkeitNF versunken. Die unerbittliche und minutiöse Arbeit von Mario Domingo, seine Geduld und Hartnäckigkeit in dem Fall sind beispielhaft und haben viele LeserInnen, selbst SpezialistInnen der Materie tief beeindruckt." Für Domingo und Rodenas vom ODHAG und für Claudia Méndez zählt zu den positiven Elementen, dass bewiesen werden konnte, dass das System durchaus funktionieren kann - auch wenn andere dies anders sehen.

Kritisiert wurden zum Beispiel einzelne sowie die Anzahl Zeugen, auf die man sich im Prozess gestützt hatte. Wer aber wie Claudia Méndez Dutzende von Prozessen verfolgt hat, weiss, dass ZeugInnen das Herzstück in jedem Prozess sind. Entsprechend wichtig seien auch gute ZeugInnenschutzprogramme, betont sie. "Es gibt immer jemanden, der bereit ist, zu reden", weiss sie, eine Erfahrung, die auch Mario Domingo teilt und dank der er die Ermordung seines eigenen Bruders aufklären konnte. Dazu Goldman: "Es ist ein menschliches Gesetz, dass mit der Zeit die Geheimnisse ans Tageslicht kommen". Eine andere Erkenntnis, die sich laut Goldman aus dem Fall Gerardi beweisen lasse, sei, dass es immer Menschen gibt, die ehrlich arbeiten: RichterInnen, StaatsanwältInnen, die Leute vom ODHAG…

Aber wie erwähnt gibt es dazu andere Meinungen: Verteidiger Galindo ist überzeugt, dass gewisse RichterInnen ZeugInnen zu Falschaussagen manipuliert hätten. Als eine perverse Show beschreibt Galindo die Art und Weise, wie der Prozess geführt worden sei.

Mario Domingo behauptet begeistert, dass, wer sich mit dem Fall Gerardi auseinandersetzt, eine Universität durchlaufe. Sowohl er wie auch Claudia Méndez versichern aus ihrer je unterschiedlichen Perspektive, dass sie durch die Beschäftigung mit dem Fall Gerardi die Lektion ihres Lebens gelernt hätten. Auch für Goldman war es ein Lehrstück (das zu einem Meisterwerk wurde, die Red.) "Es war ein langer, komplexer Prozess… der VGExhumierungNF der Leiche Gerardis beiwohnen zu dürfen, der Zirkus, der um Balú gemacht wurde. Zu sehen, wie die Medien ein solch zynisches und groteskes Spiel mitmachten, war überraschend und schwierig zu akzeptieren."

Sie alle, Rodenas und Domingo aus der Sicht des ODHAG, Méndez Arriaza als Journalistin und Goldman als Autor, sind sich einig, dass man die Geschichte von Gerardi nicht isoliert von der Geschichte Guatemalas betrachten könne. Aus ihrer jeweiligen Perspektive stimmen sie darin überein, dass ihnen die Auseinandersetzung mit dem Fall zu einer anderen Sicht der Realität verholfen habe. Méndez: "Solche Dinge werfen einen völlig auf sich selber zurück, auf unsere Geschichte, auf unsere Gesellschaft, unsere Ängste, unsere Komplexe, auf unsere Reserviertheit, auf unsere Schwierigkeit, über die Wahrheit zu sprechen, auf unseren VGRassismusNF. Es war so offensichtlich, wie z.B. der Zeuge mit (indigenem, die Red.) Nachnamen Chanax abschätzig behandelt wurde, oder einer, dessen Sprechweise nicht dem Spanisch entsprach, wie wir es gewohnt sind. Doch Méndez will den Fall nicht negativ sehen, sondern streicht das Positive daran heraus. Ebenso beurteilt es Domingo: "Wir haben bewiesen, dass wir mit unserem Willen und unserem Mut die Wahrheit ans Tageslicht gebracht haben."

Aber auch darin stimmen die Meinungen nicht überein. Galindo: "In diesem Fall haben sich alle Gerardi auf die Fahnen geschrieben, wollten die Straffreiheit in Guatemala beenden, doch erreicht wurde nur noch mehr Straffreiheit."

Und solange viele Leute noch nicht entschieden haben, ob sie den Fall als gelöst oder nicht sehen wollen, solange sie nicht wissen, wem sie glauben können, empfiehlt Claudia Méndez: "Lest all die verschiedenen Bücher, die über den Fall geschrieben wurden, lernt alle Versionen der Geschichte kennen und fällt euer eigenes Urteil!"

Goldmans Interesse liegt darin, aufzuzeigen, dass die Dunkelheit überwunden werden kann - die Straflosigkeit und der Defätismus. "Dies ist eine Geschichte über Licht, Transparenz, Ehrlichkeit und Mut."

Francisco Goldman: El arte del asesinato político. ¿Quién mató al obispo? Anagrama/Sophos, Guatemala 2009

P.S.: Auch die ¡Fijáte!-Redakteurinnen verfielen bei der Lektüre des Buches von Goldman der "Gerardi-Sucht".


PDF Original-PDF 438 --- Voriges Fijáte --- Artikel Nr. 1 - 2 - 3 - 4 - 5 - 6 - 7 - 8 --- Nächstes Fijáte