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Meine Revolution, deine Revolution, seine Revolution

Fijáte 421 vom 22. Oktober 2008, Artikel 3, Seite 4

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Meine Revolution, deine Revolution, seine Revolution

In Guatemala kann vieles verändert werden, aber unter den aktuellen Umständen strukturelle politische Veränderungen machen zu wollen, ist praktisch unmöglich... mindestens kurzfristig und durch Wahlen. Die Möglichkeiten der Regierung sind begrenzt, und diesen Staat zu lenken, bringt eine Handvoll Probleme mit sich, denn der Staat ist zerstört, ausgeweidet und demontiert von Wirtschaftsmächten, die Guatemala nicht als Land sehen, sondern als Finca. In diesem Denken fand die Gegenrevolution von 1954 statt, und mit dieser Logik wurde das VGMilitärNF zum Schutz des oligarchischen Reichtums eingesetzt und das soziale Gefüge durch Repression und Tod zerstört.

Mit dieser Geschichte im Rücken beschlossen die sozialen Organisationen ihren Demozug zum Gebäude der Sozialversicherung VGIGSSNF umzuleiten, einer der Errungenschaften der Revolution von 1944, die nicht rückgängig gemacht wurde. Es spielt ihnen keine Rolle, dass offenbar seitens des Militärs regierungsintern Druck ausgeübt wurde, dass die Transparente abgenommen werden - wichtig in der Logik der sozialen Organisationen ist es, sich nicht in den Dienst der Regierung zu stellen. Es spielt für sie keine Rolle, dass eine der Figuren Olvierio Castañeda darstellt, der einen anderen Moment des internen Konflikts repräsentiert und dessen Familie posthum mit dem "Orden de Quetzal" ausgezeichnet wurde, und der Staat somit den Ehrenmut und den Wert der sozialen Kämpfe anerkennt. Und es spielt für sie auch keine Rolle, dass mit dem öffentlichen Zeigen des Gedichts von Luís de Lión nicht nur das Militär verärgert, sondern auch die Poesie eines indigenen Schriftstellers geehrt wird. Es geht ihnen ausschliesslich darum, sich gegen die Regierung zu stellen.

Es gibt mehr oder weniger verständliche Erklärungen für diese Logik. Viele der sozialen Führungspersönlichkeiten von heute hatten ihre politische Sozialisierung während des bewaffneten Konflikts. Sie wuchsen auf mit dem Bild eines agressiven und repressiven Staates. Sie waren Opfer des Konflikts, haben Familienangehörige, die verschwunden oder ermordet wurden durch die bewaffneten Streitkräfte des Staates. In diesem Sinne kann man einige der Reaktionen der sozialen Bewegung verstehen.

Es scheint, dass es unter den aktuellen Bedingungen dem Staat möglich ist, die Ermordung Tausender von Campesinos, Indigenen, Männern und Frauen, die Entführung und Folter Tausender von GewerkschafterInnen, JournalistInnen, ArbeiterInnen und Religiösen anzuerkennen. Es ist tröstlich, dass der Staat nicht nur seine Verbrechen anerkennt, sondern auch das Engagement und den Kampf eines Oliverio Castañeda anerkennt. Aber der Präsident könnte mehr tun. Er könnte die Mörder von Oliverio vor Gericht bringen, das Militär zwingen, seine Archive offenzulegen. Dann wüssten wir nämlich, welcher Offizier an jenem Tag Dienst hatte, wer den türkisfarbenen Wagen mit dem Nummerschlid P-109716 fuhr, von dem aus Oliverio ermordet wurde. Diese Daten existieren, das Militär, das sich als eine Institution ausgibt, in der Ordnung herrscht, kann sie nicht einfach verloren haben. Oder haben sie Angst davor, sich der eigenen, wahren Geschichte zu stellen?


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