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Geschichte und Erinnerung

Fijáte 419 vom 24. September 2008, Artikel 1, Seite 1

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Geschichte und Erinnerung

Auch wenn es Verurteilungen gab in Fällen wie dem Mord an Monseñor Gerardi, VGMyrna MackNF oder dem VGMassakerNF von Río Negro, werden diese von MenschenrechtsaktivistInnen als nur "halbe Urteile" oder "partielle Fortschritte" bezeichnet.

Es gibt aber Leute, die es positiver sehen und erstaunt sind, dass es TROTZ der Politisierung des VGVerfassungsgerichtsNF und TROTZ den Mängeln in der Staatsanwaltschaft Fortschritte gibt wie z.B. die Einführung eines nationalen Wiedergutmachungsprogramms und die Urteilssprechung in einigen Präzedenzfällen.

Im Gegensatz zu dieser eher positiven Einschätzung steht diejenige der Opfer, die den Eindruck haben, dass die Justiz nicht funktioniert. Dies drückt sich in Gegenden wie VGQuichéNF, VGHuehuetenangoNF oder VGAlta VerapazNF in einem profunden Misstrauen der Justiz gegenüber aus. Für die Opfer ist es eine zeit- und geldaufwendige Angelegenheit, einen Prozess zu führen. Für viele Menschen ist denn auch die soziale Anerkennung ihres Leidens wichtiger als ein Gerichtsurteil, denn "die zerstörte Jugend kann nicht mehr rückgängig gemacht werden", wie eine Zeugin erklärte.

Viele GuatemaltekInnen, speziell StädterInnen, wollen den internen bewaffneten Konflikt "vergessen". Es fällt ihnen einfacher, über die Conquista zu sprechen, weil diese länger zurückliegt und sie direkt nichts damit zu tun haben. Aber wenn es um die Gräuel des Konflikts geht, gibt es immer wieder Stimmen, die sagen "was vorbei ist, ist vorbei". Oft meinen dies Menschen, welche die Gewalt nicht selber erlebt haben. Zwar beschweren sie sich über die aktuelle Gewalt, doch es kommt ihnen nicht in den Sinn, einen Zusammenhang mit der Vergangenheit darin zu sehen.

Viele guatemaltekische StädterInnen wissen, dass es den bewaffneten internen Konflikt gegeben hat. Doch sie sahen nie ein niedergebranntes Dorf, sie können sich nicht vorstellen, was es heisst, auf der Flucht zu sein und sich in den Bergen und Wäldern zu verstecken. Sie haben vielleicht im VGFernsehenNF gesehen, wie "VGGuerillasNF" oder "TerroristInnen" aus ihren Verstecken geholt wurden. Oder sie sahen, wie ihre NachbarInnen abgeholt wurden oder nicht identifizierte Leichen in den Strassengräben gefunden wurden. Sie erlebten die Gewalt völlig anders als ihre Mitmenschen in den ländlichen Gegenden. Doch die Konsequenzen und die Hinterlassenschaften dieses Krieges erleben heute alle auf ähnliche Weise.

Es fragt sich, welche Rolle die städtischen GuatemaltekInnen während des bewaffneten Konflikts innehatten: Jene Leute, die heute eine bestimmte Partei wählen, die sich täglich in den Medien und durch eigenen Erfahrungen über die Morde und VGKorruptionsfälleNF informiert halten, jene, die von "all dem genug haben". Können sich diese StädterInnen nicht mit ihren MitbürgerInnen identifizieren, die den Konflikt auf eine andere Weise erlebt haben?

Am 30. Mai 2008 wurden fünf Männer als die materiellen Täter des Massakers von Río Negro verurteilt. Diese Nachricht erschien jedoch tags darauf nicht in den Zeitungen, wahrscheinlich weil die Nachrichten über Korruption für die Medien wichtiger waren. So wie die Veröffentlichung einer Nachricht über diese Verurteilung Teil des "Rechts zu Wissen" ist und ein solcher Präzedenzfall die zukünftige Rechtsprechung beeinflussen kann, so ist es auch eine Pflicht der BürgerInnen, sich darüber zu informieren, was geschehen ist. Doch es ist fast unmöglich zu erfahren, was während dem bewaffneten Konflikt geschehen ist, geschweige denn, dessen Ursachen zu verstehen und zu erklären.

Im Fall von Río Negro wurden viele der damaligen VGKinderNF zu Waisen, ihre Familien wurden zerstört. Wenn man die Erlebnisse und Erfahrungen dieser Menschen kennen würde, könnte man einiges darüber lernen, wie die guatemaltekische Gesellschaft heute weniger gewalttätig sein könnte.

Doch Teil der Verunmöglichung der VGStraflosigkeitNF ist, dass genau solche Erfahrungen nicht ausgetauscht und verbreitet werden.

Aus der Dualität Opfer/ TäterIn wird eine Triade, die alles noch viel komplizierter macht. Es gibt nämlich noch die ZuschauerInnen dieser Gewalt, die sich zum Theater der Kriegspolitik gesellen und die mit ihrem Schweigen zu KomplizInnen der Gewalt werden.

Diese dritte Gruppe einzubeziehen ist einerseits eine Herausforderung, könnte aber auch die Möglichkeit bieten, der Gewalt anders zu begegnen - der vergangenen wie der aktuellen.


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