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Das Dilemma des multikulturellen Diskurses

Fijáte 408 vom 23. April 2008, Artikel 1, Seite 1

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Das Dilemma des multikulturellen Diskurses

Die Identifizierung ist ein polemisches und wenig ausdiskutiertes Thema. Wenn jemand auf seine Ethnie angesprochen wird, kommt es häufig vor, dass die Person antwortet, er oder sie sei Guatemalteke/in. Offenbar ist die nationale Identität ein homogenisierender Faktor. Das tägliche Leben der Ladinos/as ist weniger von ethnisch bedingter Unterdrückung geprägt als bei den Indígenas, weshalb auch weniger Wert auf die Diskussion von Unterschiedlichkeiten gelegt wird.

Für viele Leute ist es unverständlich, die Gesellschaft aufgrund ethnischer Unterschiede zu organisieren. Viel wichtiger ist das Streben nach liberaler Gleichheit "für alle". In diesem Sinne bedeuten die Indígenas keine grössere Gefahr, solange sie als Individuen auftreten, denn sie haben dieselben Rechte und Chancen wie alle anderen. Treten sie aber als Kollektiv mit ihren Forderungen auf, werden sie mit Skepsis und Argwohn betrachtet. So werden die Kämpfe der Mayanistas als eine Form des Separatismus gesehen, als eine Spaltung, die eine Art "umgekehrten VGRassismusNF" fördert.

Es liegt in der Ladino-Bevölkerung eine starke Betonung auf der Wichtigkeit des Respekts und des kulturellen Zusammenlebens als eine Form der Konfliktregulierung. Dies könnte auf der Annahme beruhen, dass die ethnischen Beziehungen und die Positionierung der Indígenas soziale Konflikte generieren könnten, die zum Nachteil der Ladinos/as sind.

Auf alle Fälle ist das Thema der ethnischen Zugehörigkeit in Guatemala nicht mehr nur ein exklusives Interesse der Indígenas und konzentriert sich nicht mehr ausschliesslich auf die indigene Frage. Die (öffentlichen) Institutionen, zu deren leitenden Positionen seit jüngstem auch Indígenas Zugang haben, sind Orte, wo sich interessante Machtverschiebungen abzeichnen. Dies hat damit zu tun, dass Strukturen angegriffen werden, welche bisher die ungleiche Verteilung von Privilegien aufrecht erhalten haben.

Multikulturalismus und indigene Frauen

Die Diskussion über das Recht auf Vielfalt und kulturelle Freiheit stellt auch die Geschlechterbeziehungen auf die Probe. Wenn für die nicht-mayanistischen Indígenas die Anerkennung und der Respekt ihrer Kultur schwierig ist, solange sie in einer Situation der Unterordnung und Ungleichheit leben, verkompliziert sich diese Logik für indigene Frauen, denn sie verkörpern ja diese Kultur im wahrsten Sinne des Wortes. Die Kultur wird in diesem Moment zu einem politischen Ausdruck des Stolzes, der wiederum unterdrückerische Beziehungen rechtfertigt.

Im Kontext der ethnischen Unterdrückung enthalten emanzipatorische Aktionen und Forderungen der indigenen Bewegungen oft Idealisierungen kultureller Traditionen. Die Gefahr für Frauen besteht dann, wenn die kulturellen Traditionen dazu benutzt werden, ihre Unterdrückung zu verfestigen.

Es gibt mayanistische Strömungen, die davon ausgehen, dass in der Maya-Kultur keine Unterdrückung der Frau vorkommt. Dieser Behauptung widersprechen die Erfahrungen vieler Frauen, die Gewalt in ihrem Alltag erleben. Aber auch die ethnozentristischen Vorstellungen, dass es in den indigenen Kulturen mehr geschlechtsspezifische Gewalt gäbe als in der westlichen, stimmen nicht angesichts der zunehmenden Zahl indigener Frauen, die zu ProtagonistInnen ihrer eigenen Geschichte geworden sind und gesellschaftlichen und politischen Raum einnehmen.

Multikulturalismus und Macht

Durch die Art und Weise, wie in Guatemala Macht ausgeübt wird, kann die Anwendung des Konzeptes des Multikulturalismus den Mächtigen dienlicher sein als den untergeordneten Kollektiven, die sich darauf berufen. Je nach Kontext, muss man von unterschiedlichen Formen des Multikulturalismus sprechen.

- Offizieller oder staatlicher Multikulturalismus - Der Staat eignet sich einen Diskurs von Multikulturalismus an, um eine neue Form der multikulturellen Regierungsführung einzuführen. Der "Respekt der Vielfalt" wird grossgeschrieben. Dies kann durchaus politisch ernst gemeint sein. Es kann aber ebenso eine Form sein, um die soziale Ordnung aufrecht und mögliche Konflikte unter Kontrolle zu halten.

- Neofolkloristischer Multikulturalismus - Die Wertschätzung der Indígenas beschränkt sich auf die Kultur als ein Ausdruck von Schönheit und Tradition. Der Staat und seine Institutionen sind in der Lage, die Symbole der indigenen Bevölkerung aufzunehmen, um sich deren Unterstützung zu sichern. Mit viel Rhetorik wird sie zur Hüterin der Moral der Nation erhoben, solange sie bloss nicht an den Machtstrukturen zu rütteln wagt.

- Vermarktbarer Multikulturalismus - Der Staat und die Privatunternehmen verwandeln die untergeordneten Kulturen zu einem ausbeutbaren nationalen Gut. Die Ausbeutung der in der gesellschaftlichen Hierarchie tiefer Stehenden (speziell der Körper und die Arbeit der Frauen) vermehrt ihren eigenen Reichtum, der natürlich nicht an diese weitergegeben wird. Man beruft sich dabei auf einen diffusen Diskurs von der Anerkennung der Vielfalt.

- Emanzipierender Multikulturalismus - Seine Logik entspringt einem revolutionären Verständnis. Er basiert auf Autonomie und dem Kampf gegen alle Formen ethnischer Dominanz im Staat und in der Gesellschaft. Ein solcher Multikulturalismus kann verstanden werden als ein breiter und tiefgreifender Prozess der Neu-Definition und Neu-Erfindung des Gebildes Staat/ Nation und der Beziehungen zwischen dem Staat und der Gesellschaft.

Zusammenfassend

Diverse Akteure in Guatemala haben ganz unterschiedliche Vorstellungen davon, was Multikulturalismus ist und sein soll. Auch wenn das Konzept des Multikulturalismus ein politischer Vorschlag der Liberalen ist, ist er noch lange keine Unterdrückungsideologie per se. Er kann zwar liberal interpretiert und umgesetzt, aber er kann als befreiendes und revolutionäres Konzept umgesetzt werden. Dies hängt von der Stärke und Macht der AkteurInnen ab, die zu seiner Entstehung und Verbreitung beitragen.

So wie Multikulturalismus heute in Guatemala verstanden und umgesetzt wird, scheint es fast, dass er denen nützlicher ist, die an der Macht sitzen, als jenen, die in ihm ein befreiendes Element sehen. Solange es bei einem Diskurs bleibt, der seines verändernden Potentials entleert ist, werden auch die Strukturen nicht angetastet, die auf der Kolonialisierung, dem Rassismus und der ethnischen Dominanz aufbauen und die Grundlage der sozialen Ungerechtigkeit bilden.


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