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"Nicht nur die Waren, sondern auch die Menschen sollen am Wettbewerb teilhaben"

Fijáte 306 vom 24. März 2004, Artikel 1, Seite 1

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"Nicht nur die Waren, sondern auch die Menschen sollen am Wettbewerb teilhaben"

US-amerikanischen BäuerInnen erhalten Subventionen, die guatemaltekischen nicht. Kein Lamm kommt gegen einen Löwen an. Guatemala wird gezwungen sein, Mais zu importieren, weil dieser in anderen Ländern dank der Subventionen billiger produziert wird. Für die guatemaltekischen Mayas wird es am Schluss teurer sein, eigenen Mais anzupflanzen, als importierten Mais zu kaufen. In den ganzen Verhandlungen rund um den TLC wurden die Menschen vergessen. Weshalb will man die Grenzen nur für Güter öffnen und nicht für die Menschen? Nicht nur die Waren, sondern auch die Menschen sollen am Wettbewerb teilhaben! Wenn die USA ein Abkommen "von gleich zu gleich" wollen, weshalb erlauben sie nicht, dass die MigrantInnen in ihrem Land Rechte haben? Das Freihandelsabkommen TLC ist ein rein wirtschaftliches Interesse, das ,,Frei" von diesem ,,Handel" ist jedoch in Anführungszeichen zu setzten. Denn nur einige Waren werden frei gehandelt, und zwar die Waren, die den USA belieben. Die Personen, die für Zentralamerika an den Verhandlungen teilnahmen, vertreten ihre eigenen Interessen und sie werden sicher auch etwas vom TLC profitieren. Doch die Bevölkerung wurde weder gefragt noch informiert über die Konsequenzen des TLC. Frage: Sie schlagen also vor, die Grenzen auch für die Menschen zu öffnen? A.B.: Der TLC ist eine Einschränkung. Die Folge davon ist eine repressivere Migrationspolitik und eine Militarisierung der Grenzen, wo Menschen wie DelinquentInnen verhaftet werden. KeinE MigrantIn will in die USA oder nach Mexiko, um dort zu stehlen. Die MigrantInnen wollen arbeiten, um ein würdevolles Leben führen zu können. Ich weiss wirklich nicht, weshalb man so Angst vor den MigrantInnen hat. Wenn die USA so sehr davon überzeugt sind, dass der TLC allen zu Gute kommt, sollen sie ihre Grenzen öffnen, damit die Leute auch an ihrem Wettbewerb teilnehmen können und die MigrantInnen nicht gezwungen sind, die schwerste und am schlechtesten bezahlte Arbeit zu machen, die keinE US-AmerikanerIn machen will. Frage: Die MigrantInnen schicken Geld nach Guatemala, was hier soziale Veränderungen in den Familien und Dorfgemeinschaften zur Folge hat. Wenn die MigrantInnen zurückkommen, bringen sie andere Wertvorstellungen und Einflüsse mit. Arbeiten Sie auch zu Fragen wie Identität und den sozialen Veränderungen, die die Migration mit

sich bringt? A.B.: Viele Leute kommen mit neuen Ideen, inkl. einer kapitalistischen Einstellung zurück. Zweifellos ist das Erhalten von Geld aus dem Ausland für viele Familien lebenswichtig. Doch diese Geldsendungen sind eine zweischneidige Sache. Ich möchte den Migranten sehen, der nach drei oder vier Jahren in den USA sein Vermögen angereichert und hier in Guatemala ein zwei- oder dreistöckiges Haus gebaut hat und der es schafft, nach seiner Rückkehr nach Guatemala diesen Lebensstandard aufrecht zu erhalten. Das ist unmöglich, sobald kein Geld mehr aus den USA fliesst. Eine Sache ist, in den USA zu arbeiten und Dollars nach Guatemala zu schicken, eine andere Sache ist, zurückzukehren, für Quetzales arbeiten zu müssen und hier einen nordamerikanischen Lebensstandard führen zu wollen. Viele Migranten kehren mit einem eigenen Fahrzeug aus den USA zurück und dieses dient ihnen hier zum Arbeiten. Doch nicht alle zurückgekehrten MigrantInnen können ins Transportwesen einsteigen, es kommt der Moment, wo dieser Arbeitszweig ausgeschöpft ist. Und der Unterhalt eines Fahrzeugs ist auch nicht billig. Irgendwann bleibt ihnen dann nichts anderes mehr übrig, als Drogen zu transportieren oder in andere dreckige Geschäfte einzusteigen. Frage: Aber zu diesem Themenbereich arbeitet die Casa del Migrante nicht? A.B.: Diese soziale Arbeit auf Gemeindeebene ist eher die Arbeit der Kirchen. Wir sprechen in unseren Workshops oder Vorträgen, die wir in der Casa del Migrante für die MigrantInnen organisieren, diese Themen an, sowohl die positiven wie die negativen Auswirkungen der Migration. Ein anderes Thema, das wir immer ansprechen, ist die soziale Zerrüttung der Familien. In VGSan MarcosNF gibt es viele alleinstehende Frauen, sog. ,,Witwen mit lebenden Männern" oder ,,weisse Witwen". Ihre Männer sind in den USA und haben dort eine neue Familie gegründet. Vorausgesetzt, sie kümmern sich um ihre zurück gelassene Familie in Guatemala, bedeutet es, noch mehr Geld verdienen zu müssen. Kümmern sie sich nicht um ihre Frauen und VGKinderNF in Guatemala, gibt es keine Gesetze, die diese schützen oder die Männer dazu zwingen, für ihren Unterhalt aufzukommen. Frage: Raten Sie den Leuten, nicht zu gehen? A.B.: Unsere Arbeit sollte darauf hinauslaufen, dass die Leute lernen, sich hier zu organisieren, um hier zu bleiben und hier arbeiten zu können. Guatemala hat genug Land für alle. Die Idee dieser Workshops und Vorträge ist, dass die Leute lernen, hier für ihre Rechte zu kämpfen. Hier, wo sie in ihrer Sprache sprechen, in ihrer kulturellen Umgebung und auf ihre Art und Weise leben können. Aber es ist nicht an uns, zu entscheiden oder zu sagen, ob jemand geht oder nicht geht. Die Leute müssen selber entscheiden, aber sie sollen die Freiheit haben, selber entscheiden zu können. Frage: Sie selber sind auch Migrant. Welche Migrationserfahrung haben Sie gemacht? A.B.: Für mich war die Migration sehr bereichernd. Ich lebe nun seit bald neun Jahren hier in Guatemala. Doch auch heute noch gibt es Momente, wo

ich sagen muss, dass ich die hiesige Kultur nicht verstehe. Ich bin europäischer Herkunft, meine Vorfahren migrierten von Italien nach VGBrasilienNF. Ich bezeichne mich als privilegierten Migranten, denn ich bin unter anderen Bedingungen migriert als die Menschen, die in die Casa del Migrante kommen. Aber auch ich habe schwierige Momente durchlebt, zum Beispiel als ich in die USA kam und kein Wort englisch sprach. Die Behörden haben sich über mich lustig gemacht und mich nicht ernst genommen. In solchen Momenten fühlt man sich sehr schlecht. Die Mehrheit der MigrantInnen kommen aus einfachen Verhältnissen und sind schlechter gebildet als ich es bin. Sie akzeptieren diese Misshandlungen ohne sich zu wehren. Sich kulturell in einem Land einzuleben ist mehr als einfach die Sprache zu beherrschen und sich so zu kleiden wie die Leute. Es bedeutet, die Kultur zu verstehen und sich selber zu verändern. Mich kulturell einzuleben bedeutet für mich, zu lernen, das Gute einer Kultur aufzunehmen aber auch das Gute meiner Kultur weiterzugeben. In einem anderen Land zu leben ist nicht einfach. Als ich nach Guatemala kam, musste ich lernen, mit dem Erbe des Krieges umzugehen. Mit dem Misstrauen der Bevölkerung, mit der Angst, die immer noch weit verbreitet ist. Ich kann hier nicht auf die gleiche Weise Freundschaften schliessen wie in Mexiko oder in Brasilien. Auf dem Papier bin ich Guatemalteke, ich fühle mich als Guatemalteke und gleichzeitig auch nicht. Ich habe gemerkt, dass es nicht auf das Papier ankommt, ob ich mich in einem Land heimisch fühle oder nicht. In diesem Sinne gibt es für mich keine Grenzen! Vielen Dank für das Gespräch!


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