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Ixil-Jugend in der Krise (Teil 1)

Fijáte 254 vom 27. Feb. 2002, Artikel 1, Seite 1

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Ixil-Jugend in der Krise (Teil 1)

Der Stolz der Ixiles

Der traditionellen Definition der Ixiles zu Folge ist ein/e "Jugendliche/r" eine unverheiratete Person, die über die Kindheit hinaus ist und noch nicht eine formale soziale Rolle in der Gemeinde übernommen hat. Dieses Konzept weicht von der strikt altersabhängigen Definition eines/einer Minderjährigen des guatemaltekischen Staates ab.

"Wenn ein 15-jähriger Junge bereits verheiratet ist, ist er kein Jugendlicher… Wenn ein 40-jähriger Mann unverheiratet ist, ist er ein Jugendlicher." - Jugendlicher, Workshop in Nebaj.

Eine Art für die Jugendlichen in Nebaj, sich selbst zu definieren - sowohl als Gruppe als auch individuell -, ist ihre Ethnizität als Ixil-Mayas. Wenn sie sich selbst beschreiben, erwähnen die Jugendlichen immer, dass sie Ixiles sind, Ixil sprechen, die traditionelle Kleidung tragen (Frauen: rote Röcke und kunstvoll gewobene Blusen und Tücher mit Tieren, Pflanzen und geometrischen Symbolen) und bestimmte Lebensmittel essen. Diese Identitätsmerkmale stimmen mit den Beschreibungen des traditionellen Lebensstils der Erwachsenen überein. Sowohl die verinnerlichte Kultur (Lebensstil und Weltanschauung) der Ixiles als auch die von der Gemeinschaft geteilte Geschichte (inklusive Unterdrückung und versuchte Auslöschung) wurden von einer Generation zur nächsten weiter gegeben und sind nun von den Jugendlichen wiederum internalisiert worden.

Das traditionelle Bild von Identität, das die Jugendlichen wie die Erwachsenen beschreiben, definiert ein Wertesystem und einen Lebensstil, der auf Glück, Ehre, Bescheidenheit, Verantwortung, Gehorsam, Respekt (für sich selbst und andere, für Traditionen und Kultur, für die Muttersprache), Verständnis, Arbeit, Dynamik, Partizipation und Hilfe für andere, Intelligenz (theoretisch und praktisch) und Treue (in zwischenmenschlichen Beziehungen: Freundschaften, Liebe, Brauch-Gesetz-Verbindungen, Ehe) basiert. Diesen Idealen wohnt eine Spiritualität inne, die im Gottesdienst in einer religiösen Gruppe konkret gelebt wird.

Gespaltene Spiritualität

Für die Ixiles ist die Spiritualität auf komplexe Weise an die kulturelle Identität gebunden. Zudem wandten sich viele während der schlimmsten Zeit der Gewalt - als den Leuten alles genommen wurde, was in ihrem Leben heilig war - dem Glauben zu, um Interpretationen zu finden für das, was ihnen widerfahren war.

Das guatemaltekische Militär nahm während des Konflikts direkt die Spiritualität der Maya ins Visier. Die Armee zerstörte beispielsweise Salquil Grande, ein heiliger Ort für Maya-PriesterInnen und wandelten ihn in ein militarisiertes "Modelldorf" um.

Zusätzlich wurde der Zustrom zahlreicher verschiedener evangelikaler protestantischer Sekten als eine Form sozialer Kontrolle benutzt, um die Gemeindemitglieder zwischen den verschiedenen Sekten zu polarisieren und sie sowohl von der Maya-Weltanschauung als auch von der katholischen Befreiungstheologie zu distanzieren, welche die Leute dazu ermuntert, sich für ihre Rechte einzusetzen. EvangelikaleNF Lehren bringt die Leute dazu, ihr Los protestlos zu akzeptieren und sich auf das Leben nach dem Tod zu konzentrieren. Einige Sekten suggerieren oder erklären gerade heraus, dass die Menschen Guatemalas im Krieg gelitten hätten, weil sie der falschen Religion gefolgt seien.

"Also, was das Wachstum der evangelikalen Kirchen betrifft, so ist die Wahrheit, dass der Krieg der Grund dafür ist, und dass es deswegen heute so viele Religionen gibt. Warum? … Wenn sie wüssten, dass jemand VGkatholischNF wäre, so würden sie ihn/sie sicher anklagen, kriminell zu sein, der VGGuerillaNF anzugehören, doch das stimmt nicht… Aus Angst mussten sie die Religion wechseln… Viele hatten Angst, deshalb gibt es Spaltungen…" - Eltern, Interview in Nebaj.

Die Präsenz von sich konkurrenzierenden Kirchen hat Streitigkeiten zwischen den Leuten darum zur Folge, wer nun die "Geretteten" seien und die "Wahrheit" besässen. Jede Sekte weist die anderen als häretisch zurück. Zur einen zu gehören meint, die anderen auszuschliessen. (…) Diese Situation trägt zum Zerfall des Zusammenhalts der Gemeinschaft bei, indem eine potenziell einigende Praxis der Zugehörigkeit beseitigt wird. Die Spannungen in den Familien nehmen zu, wenn ein Teenager entscheidet, sich einer bestimmten Sekte anzuschliessen, während andere Familienmitglieder zu einer anderen gehören.

Heranwachsende, die auf der Suche sind nach ihrem Platz und dem Sinn im Leben sind mit zahlreichen Kirchen konfrontiert, die alle den alleinigen Zugang zur Wahrheit für sich reklamieren; sie haben oft grosse Angst, die "falsche" Wahl zu treffen und möglicherweise dem Heil zu entgehen.

Gleichzeitig trägt die anvisierte Zerstörung und das teilweise Verschwinden von charakteristischen spirituellen Ixil-Riten und Überzeugungen zu einem kulturellen Sinnverlust bei wie auch zum Gefühl unter Jugendlichen, indigene Lebensformen seien minderwertig. Bei der Beschreibung der idealen Jugend-Identität verweisen Ixil-Teenager auf traditionelle Werte, doch in der Praxis weisen sie bisweilen Maya-Tugenden zu Gunsten nicht-indigener Praktiken zurück.

Rückzug des Ideals

Wenn junge Ixil-Männer und -Frauen darüber diskutieren, was es heisst, Jugendliche/r zu ein, stellen sei eine weitreichende Liste von Eigenschaften und Werten zusammen, die sowohl ihr Bild des idealen Verhaltens von Jugendlichen einschliessen als auch Schilderungen ihres tatsächlichen Handelns.

Das Modell des/der idealen Jugendlichen, auf das sich junge Ixiles stützen, basiert primär auf traditionellen soziokulturellen Mustern, die Verantwortung, Gehorsam und Respekt als fundamentale Werte des individuellen, familiären und gemeinschaftlichen Lebens ausweisen. Die Jugendlichen sehen in diesen Eigenschaften jene Prinzipien, welche ihr tägliches Denken und Handeln führen sollen, damit sie "gute Jugendliche" sind. Sie anerkennen, dass dieses Modell mit dem von den Erwachsenen beschriebenen Standard übereinstimmt.

Trotzdem sehen junge Ixil-Männer und -Frauen sich selbst nicht als Verkörperungen des Idealbildes. Sie stellen sich ihre Identität als eine Mischung von positiven und negativen Eigenschaften vor, entsprechend der Charakterisierung, die von den Jugendlichen wie von den Erwachsenen verwendet wird. Unter den positiven Eigenschaften, die Ixil-Jugendliche sich selbst zuschreiben, sind Verantwortung, Gehorsam, Respekt, Liebenswürdigkeit, Arbeitsethik, Bildung und Intelligenz. Die negativen Werte, mit denen sie sich selbst beschreiben sind Verantwortungslosigkeit, Ungehorsam, Respektlosigkeit, Unehrlichkeit, Beleidigung, Unhöflichkeit und Apathie.

Die Jugendlichen zeigen selten offen die Einsicht, dass diese beiden Listen von Eigenschaften sich direkt widersprechen. Auch fassen sie nicht in Worte, wie diese Kontraste sich auswirken. Aber ihr Scheitern - oder ihre Weigerung -, ihren selbst geäusserten Idealen sowie den Erwartungen ihrer Eltern Folge zu leisten, verursachen Probleme mit ihrer eigenen Person wie auch in ihren Beziehungen.

(Zweiter Teil im nächsten !Fijáte!)


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